Welche Zukunft hat die Evangelische Kirche in Deutschland? Mit dieser Schlüsselfrage beschäftigten sich Experten auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing. Karsten Huhn berichtet.

Am Anfang steht die Analyse. Der Leipziger Theologieprofessor Alexander Deeg sieht vier Weisen, auf den Zustand der Kirche zu sehen:

  1. Der apokalyptische Blick mit ungeschönter, messerscharfer Diagnose: Die Kirchen sterben. „Sie sind wie die Titanic, die auf den Eisberg zusteuert.“ Die hohe Zahl der Austritte setzt sich fort. Die Frage sei nicht mehr, ob, sondern wann die Kirchen das Licht ausmachen. Immerhin: Das Ende wird nicht mehr in diesem Jahrhundert erreicht sein: „Ein wenig Zeit haben wir noch.“ Nicht viel besser sieht die zweite Variante aus.
  2. Resigniert: Kirchenmitglieder werden immer weniger, Kirchenräume werden nicht mehr gebraucht, die Kirche trifft kaum auf Resonanz und befindet sich im langsamen Niedergang. Die Kirche als „Verein der hängenden Schultern, der grauen Haare, der fehlenden Zukunft.“ Hoffnungsvoller klingt Variante
  3. Die Kirche hat Zukunft, denn der lebendige Herr ruft die Kirche immer neu ins Leben. Sie lebt nicht aus sich, sondern von Gott. Die bröckelnde Kirchenfassade wird ignoriert, mit Gottvertrauen und frommem Selbstbewusstsein wird weitergearbeitet. Deegs Favorit ist indes Blick Nummer 4
  4. Der Kirchenraum wird neu belebt. Da, wo einmal Gottesdienst gefeiert wurde, zieht nun eine Kindertagesstätte ein. Kirchen werden neu genutzt als Fahrrad-, Pilger- oder Kulturkirche mit Tanz und Theater. Da stirbt nichts, sondern eine Transformation findet statt. Deeg rät zu einem liebevollen, wertschätzenden Blick auf die Kirche: Etwa eine Million Menschen engagieren sich ehrenamtlich, die Zahl der evangelischen Schulen und Kitas wächst. Deeg wirbt für eine Kirche der Vielfalt, die sich nicht in frommer Innerlichkeit verschanzt, sondern ihre Türen weit öffnet, die ihre Rituale bewahrt und zugleich neue Kooperationen eingeht.

Theologie für das 21. Jahrhundert

Eine „Theologie für das 21. Jahrhundert“ entwirft der Würzburger Theologieprofessor Klaas Huizing. Für ihn lautet die Frage der Zukunft: Wie führt man ein gutes Leben? Er wirbt für die Wiederentdeckung der Weisheitstheologie, also des Buches der Sprüche, des Buches Prediger, des Hohelieds und der Psalmen. Die Weisheitstheologie enthalte Tanz, Erotik, Weite, Spiel, Kreativität und Ästhetik, ist also lebens- und erfahrungssatt und bietet einen „Resonanzraum für religiöse Erfahrung“. Die Texte des Alten Testaments seien wichtig – unabhängig davon, ob dessen Personen tatsächlich gelebt haben oder nicht. So sei die Figur des Mose „legendär und überladen“ – lernen könne man dennoch etwas von ihm. Wenig anfangen kann Huizing hingegen mit dem Begriff der Sünde. Er hat ein Buch darüber geschrieben („Schluss mit der Sünde!“). Ihm ist das Wort zu düster, das Menschenbild dahinter zu pessimistisch. Weniger über Sünde und mehr über das Gelingen des Lebens sollte gepredigt werden. Von der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, von Kreuz und Auferstehung ist in Huizings „Theologie für das 21. Jahrhundert“ folgerichtig keine Rede. Jesus Christus versteht er als „Kippfigur zur Kain-und-Abel-Geschichte“. Jesus sei ein „Gewaltstopper“, der auf Rache verzichtet. Ist er für die Sünden der Welt gestorben? Folgt man Huizing, dann eher nicht. Huizing ist ein Freigeist mit Lust an Scherz und Provokation. So humorvoll er auch doziert, überzeugend ist sein „Sprachspiel“ und „Deutungsgeschäft“ nicht.

Warum sich der Mitgliederschwund beschleunigt

Die Kieler Theologieprofessorin Uta Pohl-Patalong rechnet damit, dass sich der Mitgliederschwund noch beschleunigen wird: Wer heute austritt, lässt seine Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht taufen, die wiederum ihre Kinder nicht taufen lassen. So wirke sich ein einzelner Austritt über mehrere Generationen aus. An Attraktivität verlören auch die kirchlichen Berufe: „Wir merken es an den Studierendenzahlen.“ Pohl-Patalong spricht von einer „Relevanzkrise“ der Kirche: Es gelinge ihr immer weniger, Menschen von ihrer Botschaft zu überzeugen. Der klassische Gottesdienst sei für neue Besucher „nur schwer zugänglich“, die klassische Form der Ortsgemeinde sei „nicht zukunftsfähig“. Pohl-Patalong rät dazu, die bisherige Ausrichtung auf Ortsgemeinden aufzugeben und neue Gemeindeformen zu entwickeln. Die Kirche könne nicht mehr überall alles anbieten, sondern müsse zielgruppenorientierter arbeiten. Künftig sollten sich Gemeinden nicht ähneln, sondern in ihren spirituellen Profilen unterscheiden. So könnten Gemeinden hochliturgische und alternative, meditative, afrikanische oder Tanzgottesdienste anbieten. Nötig sei auch ein verändertes Selbstverständnis von Pfarrern. Sie müssten ihren „Anspruch auf Allzuständigkeit aufgeben“ und statt als Einzelkämpfer stärker im Team zusammenarbeiten. Dafür sei es nötig, das Hierarchie- und Konkurrenzdenken zwischen den kirchlichen Berufsgruppen – Pfarrer, Verwaltungsmitarbeiter, Kirchenmusiker, Religionspädagogen – zu überwinden. Künftig sollten Pfarrer zudem stärker nach Gaben und Neigung eingesetzt und dadurch entlastet werden. So sollten Verwaltungsaufgaben verstärkt durch Gemeindemanager übernommen werden. Auch die Mitarbeit von Ehrenamtlichen werde eine noch stärkere Rolle spielen.

 

Warum Menschen austreten

Das bewegendste Plenum befasste sich mit der Frage „Warum ich aus der Kirche ausgetreten bin“. Mathias Blühdorn, Geschäftsführer einer Münchner Firma für Musikmarketing, erzählte vom Aufwachsen in einem evangelischen Elternhaus. Doch als er älter wurde, hätte er die Gottesdienste als stark formalisiert, museal und wenig inspirierend empfunden. Er wurde zu einem „U-Boot-Christen“, der nicht mehr in der Kirche auftauchte. Eine Weile blieb er noch Mitglied, zahlte weiter seine Kirchensteuer. Als er den Sprung in die Selbstständigkeit wagte, sparte er sich die Kirchensteuer. Heute trage sein Glaube „agnostische Züge mit hohem Interesse an Spiritualität“. Noch ungewöhnlicher ist die Geschichte vom Rostocker Coach und freien Bestattungsredner Jonas Löffler. Er wuchs in einem pietistischen Elternhaus auf und erfuhr eine „tiefe evangelikale Prägung“. Er besuchte die Bibelschule Adelshofen und studierte Theologie an der Uni Rostock. 2018 wurde er in der Nordkirche zum Pfarrer ordiniert. „Die Gemeinde war sehr glücklich mit mir.“ Doch für ihn selbst „fühlte es sich nicht stimmig an, den Menschen die Welt zu erklären“. Er entwickelte ein kritisches Verhältnis zur christlichen Tradition, zur Institution Kirche und zur eigenen Rolle als Pfarrer, so Löffler. Es sei ihm unmöglich erschienen, als Pfarrer weiterzumachen. 2020 stellte er einen Antrag auf Dienstende und trat aus der Kirche aus. Sich selbst sieht er heute als „christlichen Atheisten“.

Als „milde protestantisch sozialisiert“ bezeichnet sich der Autor und Berater Christian Thiele aus Garmisch-Partenkirchen. Seine Familie gehörte zu den „Heiligabendchristen“. Begeistert war er von der Teilnahme an einem evangelischen Jugendlager. Seit seinem Politikstudium „im gottlosen Berlin“ hatte er kaum Kontakt zur Kirche. Er trat aus, die eingesparte Kirchensteuer spendete er ein, zwei Jahre an Greenpeace. „Danach habe ich es vergessen.“ Als er Vater wurde, sei ihm klargeworden, dass er seine Tochter taufen lassen möchte. Heiligabend 2019 trat Thiele wieder in die Kirche ein: „Ich kann empfehlen, wiedereinzutreten. Es fühlt sich gut an.“

„Klimaschutz gehört ins Zentrum der christlichen Botschaft“

Gemeinden sollten sich an Klimastreiks beteiligen, Klimagottesdienste und Solidaritätsandachten durchführen und sich so gegen Erderwärmung und Artenverlust engagieren. Das fordert der Physiker Michael Streubel von der ökumenischen Initiative „Christians for Future“. Diese setzt sich zusammen mit „Fridays for Future“ für mehr Klimaschutz ein. Die Kirche solle „die Willigen zusammenrufen“ und ihre „prophetische Stimme“ erheben. „Klimaschutz gehört ins Zentrum der christlichen Botschaft“, so Streubel. Soll künftig über das Pariser Klimaabkommen und den Temperaturanstieg gepredigt werden? Laut Streubel kommt den Kirchen bei der gesellschaftlichen Transformation „eine große erzieherische, spirituelle und kulturelle Aufgabe“ zu. So könnten Gemeinden zu einem „Klima-Tisch“ einladen, bei dem die Teilnehmer sich austauschen, wie man „anders leben“ könne. Dabei könnten biblische Bilder als Orientierungspunkte herangezogen werden. Man müsse „den Gläubigen sagen, was die Stunde geschlagen hat“.

„Es geht kaum noch um Gott“

Wie wird die Kirche von einem Journalisten gesehen? Eine bissige Kritik äußerte Alexander Jungkunz, Mitglied der Chefredaktion der Nürnberger Nachrichten. In seinen Augen ist die Kirche zu tagespolitisch. Von der letzten EKD-Synode sei vor allem hängen geblieben, dass die Kirche ein Tempolimit 100 für ihre Beschäftigten will und dass es für eine Sprecherin von den Klimaaktivisten „Letzte Generation“ stehende Ovationen gab. Die Kirche wirke oft wie ein „Naturschutzbund mit etwas Spiritualität“. Auffällig sei zudem ihre große Regierungsnähe. Ihre Forderungen ähnelten oft denen der Ampelkoalition, „bis auf das heikle Thema Staatsleistungen an die Kirchen natürlich“. In der Kirche würden viele Debatten geführt, die außerhalb kaum einer verstehe. Er beobachte „Verzagtheit, Ratlosigkeit, Aktionismus und eine gewisse Wurstigkeit“, so Jungkunz. Die Kirche strahle zu wenig Gelassenheit aus, vermittle zu wenig Geborgenheit und tröste zu wenig. Jungkunz: „Es geht kaum noch um Gott.“

Was bezeichnend war

Auffallend war eine gewaltige Leerstelle der Tagung: Die Weitergabe des Glaubens an Kinder und Jugendliche wurde – wenn überhaupt – nur gestreift. Sind evangelische Kitas und Schulen tatsächlich so eine große Erfolgsgeschichte? Was wird im Religionsunterricht noch an christlichen Grundlagen vermittelt – oder werden dort heute nicht mit Vorliebe ethische Fragen und die verschiedenen Weltreligionen behandelt? Wie können Eltern ihren Kindern Gebet, Gesang und Bibellesen nahebringen? Und wie können Großeltern ihren Enkeln von Gott erzählen? Bezeichnend für die Tagung war, dass Referenten wie Teilnehmer der Tagung fast alle älter als 50 Jahre waren (eine Ausnahme bildeten bezeichnenderweise die aus der Kirche ausgetretenen Sprecher). Die, die die nächsten Jahrzehnte der Kirche prägen werden, fehlten völlig: Theologiestudenten und Vikare, Berufsanfänger und junge Eltern. Zu gerne hätte man erfahren, welche Zukunft sie sich für ihre Kirche erhoffen. Wie schade!

Quelle: https://www.idea.de/